Geschichten
die Affaire Samichlaus
Dieses Un-Jahr 2020: unmöglich und unberechenbar. Diese Seuche, die keinen Regeln folgt und zuschlägt, wo es ihr grad passt.
Inge sitzt zuhause in Quarantäne. Heute Abend wäre sie am Weihnachtsapéro im Stadtrat - und morgen beim Skiausflug der Fraktion - alles abgesagt. Obwohl sie nichts verpasst, ist Inge sauer auf Sam. Sam hat sich das Virus am Stammtisch eingefangen. Typisch Musiker, typisch Sam, sorglos wie immer. Inge steht voll hinter den getroffenen Massnahmen, aber Sam bleibt skeptisch: Es ist doch nur eine Grippe. Inge nervt sich: Die zweite Welle schwappt… und du: übergeschnappt! Da lies: Schweiz am Anschlag: Die Spitäler voll, das Personal überlastet, Museen, Kinos, Theater… alles zu. Auch deine events sind gestrichen. Blöd, aber vernünftig. Aber Sam findet diese Vernunft nicht sexy. Er – positiv getestet - hat kaum Symptome und lässt es sich in der Einliegerwohnung seiner Mutter gutgehen. Die alte Dame stellt ihm jeden Mittag ein warmes Essen vor die Tür. Sam grinst ins Telefon, das sei die viel zitierte Solidarität zwischen den Generationen. Entnervt legt Inge das Natel weg. Je mehr Sam den Sorglosen mimt, umso vehementer vertritt sie ihren Standpunkt. Es fliegen die Fetzen, und zum x-ten Mal denkt Inge an Trennung. Wenn Sam stur seine Meinung vertritt, geht Inge in Opposition. Automatisch. Im Grunde kann sie Sam verstehen. Sie selber wollte auch trotz Quarantäne in die Stadt, aber ihrer Freundin ist das zu heiss. Inge fand, sie gehörten ja nicht zur Risikogruppe… Sam hätte über ihre Inkonsequenz gelästert.
Jetzt tigert Inge durch die Wohnung, greift nach einem Buch, legt es weg, geht in die Küche, nimmt die Wäsche aus dem Tumbler. Sie seufzt: In drei Tagen wäre sie in Hamburg. Kein Besuch bei der Schwester und auch kein Weihnachtskonzert. Die teuren Plätze in der Elbphilharmonie verfallen, das ist halt so, aber der Verzicht auf das Zusammentreffen mit Nina und Klaus tut weh. Die Zwillinge sind so schnell gross geworden. So ist das also mit dem Älterwerden seufzt Inge Das Leben rinnt einem durch die Finger und was bleibt, sind Erinnerungen…
Zeit für einen Seelentröster! Inge macht sich heisse Schokolade mit Rum. Den Rum hat Sam mitgebracht, er trinkt gern Bacardi-Cola. Bis jetzt hat er kaum Symptome, aber es gibt anscheinend auch schwere Verläufe bei jüngeren Personen. Inge hat Herz-klopfen. Sie wärmt die kalten Finger an der Tasse und trinkt in winzigen Schlucken. Mit warmem Bauch sieht die Welt fast freundlich aus.
Wo ist es bloss? In der untersten Schublade liegt es, das Album mit den alten Familienfotos. Sie macht es sich bequem und blättert.
Die sechziger Jahre: Wohlstand dank Wirtschaftswunder. Staubsauger, Kühlschrank, die erste Waschmaschine mit Lochkarten und im Garten eine Hollywood-Schaukel. Noch kein TV, aber ein mächtiges Radio mit Grammophon und Schallplatten von Mario Lanza und der Callas. Wir Kinder besassen eine einzige Platte: die Märchen der Gebrüder Grimm. Im Winter die ersten Strumpfhosen aus Helanca. Eine Erlösung: Die grauen oder weissen Strumpfhosen aus Wolle, vom Grosi eigenhändig gestrickt, kratzten fürchterlich. Da, die Fotos mit dem Samichlaus… Inge geht auf Zeitreise.
Sonntagmorgen, im Dezember 1966
Die Eltern schlafen noch, aber das Ingeli und das Nini sind schon wach. Hella, das lustige Kindermädchen aus Hamburg, tanzt ins Zimmer und trällert: Heute kommt der Nikolaus. Sie nimmt die Samtkleidchen der Mädchen aus dem Schrank und hängt sie zum Lüften ans offene Fenster. Brrr! Ingelis Kleidchen ist himmelblau, Ninis Kleidchen erdbeerrot, beide mit adretten Krägli aus St. Galler Spitze.
Beim Frühstück mag das Ingeli sein Butterbrot nicht aufessen. Lebhaft erinnert es sich. In seiner Vorstellung sind der Samichlaus von Tag zu Tag imposanter und der Schmutzli immer unheimlicher geworden. Das Ingeli studiert seine Ovo. Im Kindergarten hat der Stefan behauptet, zu ihm käme immer nur der Samichlaus. Kein Schmutzli. Du bist so dumm! hat das Ingeli gerufen. Jedes Kind weiss, dass der Samichlaus mindestens tausend Jahre alt ist und der Schmutzli den schweren Sack tragen muss. Beim Gedanken an den Sack schauert das Ingeli, weil der Vater gesagt hat, dass der Samichlaus unfolgsame Kinder hineinstecke, um sie in den Wald mitzunehmen. Der Samichlaus hat ein goldenes Buch, in dem geschrieben steht, ob die Kinder im vergangenen brav waren. Das Ingeli ist die Ältere, es muss mit gutem Beispiel vorangehen. Sei vernünftig bekommt die Sechsjährige immer wieder zu hören. Das Ingeli ahnt schon, dass ihm das Vernünftigsein nicht gelungen ist. Aber vielleicht lässt sich das Schlimmste noch abwenden? Es könnte der Mama in der Küche helfen oder den Teppich in der grossen Halle staubsaugen, wo schon alles für den Chlaus-Abend hergerichtet ist. Nach dem Mittagessen trägt das Ingeli die Teller vom Tisch und hilft Abtrocknen. Danach sollen die Mädchen ihren Mittagsschlaf halten. Die Mama will ungestört ihre wunderbaren Weihnachtsguetzli backen. Im ungeheizten Gästezimmer stehen schon Büchsen mit Vanille-Gipfeli, Spitzbuben, Mailänderli und wie sie alle heissen. Das Ingeli hat sich schon heimlich daraus bedient. Hella weiss es und zwinkert vergnügt. Husch, ins Bett mit euch! Dann hat Hella Zimmerstunde. Sicherheitshalber könnte man noch das Kinderzimmer aufräumen sagt das Ingeli zum Nini. Als alle Spielsachen in der Kiste versorgt, die Stofftiere in Reih und Glied sitzen und auch die Mal- und Bilderbücher säuberlich gestapelt sind, gehen die Mädchen nach unten. In der Küche nimmt die Mama gerade duftende Brunsli aus dem Ofen, die sie am Abend vorher kühlgestellt hat. Beim Backen strahlt die Mama eine seltene Glückseligkeit aus, die die Mädchen an ihr lieben. Zwischen zwei Blechen umarmt die Mama das Ingeli und das Nini und lässt die beiden abwechselnd eine Kelle mit Zuckerguss oder eine Schüssel mit Teigresten ausschlecken. Der Papa schaut in der Küche vorbei und reibt sich die Hände. Er freut sich auf das festliche Abendessen. Wie immer werden die Mädchen dann bereits rosig geschrubbt und ordentlich gekämmt in ihren Betten liegen.
Wann kommt er denn? will das Nini wissen. Das weiss doch jedes Kind sagt das Ingeli: Erst, wenn es dunkel ist. Im Stillen hofft es, dass der Stefan vom Kindergarten recht hat und der Samichlaus diesmal ohne den Schmutzli kommt. Die Eltern zu fragen, getraut sich das Ingeli nicht. Aber dann fällt ihr Hella ein: Mit ihrer Igel-Frisur und dem fröhlichen Lachen ist Hella nicht mehr Klein und noch nicht Gross. Ja, Hella kann man fragen. Das Ingeli rennt die Treppe hoch, das Nini hinterher. Sie klopfen leise... Vielleicht ist sie eingeschlafen? flüstert das Ingeli und öffnet vorsichtig die Türe, zuerst nur einen Spalt breit. Im Zimmer ist es dunkel, aber Hella schläft nicht. Hella sitzt auf dem Bett, den Kopf in den Händen vergraben, und weint so heftig, als ob nichts und niemand auf der Welt sie trösten könnte. Da bimmelt und poltert es von unten. Der Samichlaus ist da! Die Mädchen ziehen Hella vom Bett und verstecken sich hinter ihrem Rücken. Dann bewegen sie sich zu Dritt - wie ein einziges furchtsames Geschöpf - die Treppe hinunter, wo der drapierte Vorhang allerletzten Rückzug bietet. Hella schiebt das Ingeli und das Nini in die festlich geschmückte Halle. Im Kamin knistert ein Feuer. Die Mama sitzt auf dem Sofa unter dem Gobelin, das Grosi im bequemen Sessel. Der Papa rückt den Stuhl für den Samichlaus zurecht, der Schmutzli muss stehen. Das Nini läuft schutzsuchend zum Papa. Das Ingeli schmiegt sich an das Grosi. Angestrengt mustert es seine Leopardenfinkli, am linken wackelt der rote Pompon. Der Samichlaus winkt das Ingeli zu sich, seine kleine Hand verliert sich im weissen Handschuh. Der Samichlaus putzt die Brille und schlägt das goldene Buch auf. Sooo, Ingeli ertönt seine tiefe Stimme… als Hella mit einem verzweifelten Schluchzer alle Blicke auf ihr vom Weinen verquollenes Gesicht zieht. Reissen Sie sich zusammen, Hella! sagt der Papa streng. Das Ingeli staunt: Dass sich Hella so sehr vor dem Samichlaus fürchtet, das hätte es nie für möglich gehalten.
Das Ingeli hat Ohrensausen. Kaum hört es, wo es sich künftig bessern soll ...Zimmer aufräumen... vernünftig sein... …sonst mit dem Samichlaus in den Wald … es schluckt und kämpft mit den Tränen. Da passiert es! Wie ein kleiner Kugelblitz fährt das Nini dazwischen und piepst: aber… das Ingeli kann schön singen!... und… und… schön malen! Das Ingeli kommt aus dem Staunen nicht heraus, diesmal über den Mut der kleinen Schwester. Als das Ingeli sein Sprüchlein aufsagen soll, hat es vor Aufregung alles vergessen. Und wieder rettet das Nini die Situation. Mit zitterndem Stimmchen singt es das Lied vom Hut mit den drei Ecken. Hella hat es den Mädchen beigebracht: Mein Hut, der hat drei Ecken, drei Ecken hat mein Hut – und hätt er nicht drei Ecken, so wär es nicht mein Hut. Der Samichlaus hat einen Niesanfall. Laut und lang prustet er in sein Taschentuch. Endlich gibt er dem Schmutzli ein Zeichen. Aus dem grossen Sack kullern Mandarinen, Äpfel, Nüsse, bunte Schokolade-Taler und Lebkuchen, sogar ein Schlitten mit roten Kufen rutscht hervor. Der Samichlaus erhebt sich, er und der Schmutzli müssen weiter. Der Papa offeriert noch einen Kirsch, dann sind Samichlaus und Schmutzli fort.
Das Nini schnauft erleichtert, und das Ingeli hat Herzklopfen. Die Grossen gehen ins Esszimmer. Hella hält den Kopf gesenkt und weicht dem Blick der Eltern aus.
Eine Stunde später sitzen das Ingeli und das Nini aufrecht in den Betten. Das Nini flüstert: der Samichlaus wollte dich… mitnehmen... dem Ingeli ist das peinlich, und es sagt: Aber die Hella hat noch viel, viel mehr Angst gehabt als ich. Das Nini aber meint verträumt: In Hamburg kommt der Nikolaus in einem Schiff übers Meer gefahren…. das ist sicher wunderbar…. wenn ich gross bin… Es wird ruhig im Kinderzimmer, nur die Lämpchen brennen, ein Leuchtkäferchen und ein Männchen mit Laterne. Die Mädchen warten auf ihre Gute-Nacht-Geschichte.
Was die Hella nur so lange mit den Eltern zu besprechen hat? Die Mädchen huschen aus dem Zimmer und kauern sich auf die oberste Treppenstufe. Aus dem unteren Stock dringt undeutliches Gemurmel, bis der Papa die Stimme hebt: Jetzt beruhigen Sie sich, Hella. Seien sie doch vernünftig! Die Mädchen lauschen, aber wenn man partout nicht versteht, um was es geht, wird es langweilig. Das Nini gähnt und das Ingeli hat kalte Füsse. Die Mädchen tapsen in ihre Betten und schlafen bald tief und fest.
In der Woche darauf werden sie Hella zum Bahnhof bringen. Vorwurfsvoll wird das Ingeli Hella am Ärmel zupfen: Du hast versprochen, mit uns den Osterhasen zu suchen. Aber Hella wird in den Zug nach Hamburg steigen und ihnen ein letztes Mal zuwinken. Jetzt sehen wir Hella nie, nie mehr? wird das Nini ungläubig fragen. Die Mama wird den Kopf zur Seite drehen und keine Antwort geben.
Ich muss eingeschlafen sein vermutet Inge. Sie hebt das Album vom Boden auf und glättet das Papier zwischen den Seiten. Zeit die Schwester anzurufen. Nina, jetzt lebst du schon so lange in Hamburg mit deinem Klaus. Hast du nie daran gedacht, unsere liebe, lustige Hella zu besuchen?
Und Nina erzählt: Als die Mama noch lebte, habe sie tatsächlich einmal nach Hellas Nachnamen und Adresse gefragt habe. Das habe ich alles komplett vergessen habe die Mama gesagt. Bei einem ihrer letzten Besuche habe sie schliesslich erzählt, was sich vor vielen Jahren am Samichlaus-Abend zugetragen hat:
Beim Backen war der Mama eingefallen, dass sie für das Kindermädchen eine Schale mit Nüssen und Süssigkeiten gefüllt hatte und mit Mandarinen, die Hella besonders gerne ass. Zwischen zwei Blechen mit Kokosmakronen eilte die Mama in den oberen Stock und stellte Hella, die gerade nicht im Zimmer war, die Schale auf den Tisch. Im Handumdrehen war die Mama wieder unten in der Küche, denn: Makronen dürfen nicht zu lange im Ofen backen, sonst sind sie trocken. Was die Mama in ihrer Geschäftigkeit übersehen hatte, war, dass sie die Schale auf einen angefangenen Brief gelegt hatte... Hella, die kurz darauf ins Zimmer kam, musste annehmen, die Mama habe den Brief gelesen. Hella stockte der Atem. Im Brief an die Freundin hatte sie nämlich ihr Liebesverhältnis mit dem Papa geschildert, der ja nicht nur verheiratet sei, sondern eben auch zwei niedliche, blonde Töchter habe.
In ihrer Not hatte Hella beschlossen noch am selben Abend zu beichten, dass sie sich im Brief an die Freundin nur habe interessant machen wollen. Ihr Liebesverhältnis mit dem Papa sei nichts als eine Lüge.
Inge staunt: Diese Geschichte muss ich Sam erzählen, sie wird ihm gefallen.
Bist du noch dran? fragt Nina. Eine ganze Weile vergeht, bis Inge antwortet: Nina, du bist die Fantasievolle von uns beiden, ich mehr der rationale Typ… aber diese Geschichte damals… mir scheint… also, es wäre immerhin möglich…
Nina kichert: … gut möglich, dass die Lüge… gelogen war!
Evelyne Badilatti, Dezember 2020